The Weepers - Wenn die Nacht Augen hat: Band 2 - Roman (German Edition)
gewollt, dass du ihn in dieser Situation tötest. Verstehst du das nicht, Sherry? Verstehst du nicht, dass es nicht deine Schuld ist? Die Regierung ist dafür verantwortlich. Sie hat uns zu Ungeheuern gemacht.«
Endlich verließ er mich, und ich war allein. Seine Worte ergaben so viel Sinn. Schließlich stand ich auf, ging nach draußen und schlenderte an den alten Grabsteinen des Friedhofs vorbei, bis ich den großen Baum in der Mitte erreichte. Ich ließ mich zwischen den dicken, verkrümmten Wurzeln auf die Knie fallen, lehnte den Kopf gegen den Stamm und schloss die Augen. Der Baum war so gewaltig, dass meine Arme zehnmal länger hätten sein müssen, um ihn zu umfassen.
Der Baum spendete mir Trost. Vielleicht, weil er so aussah, als wären mehrere Bäume zu einem verschmolzen. Als ob sie, anstatt gegeneinander ums Überleben zu kämpfen, sich dazu entschieden hätten, eine Einheit zu bilden. Oder möglicherweise lag es auch daran, dass der Baum so alt war, dass er wohl schon hunderte Menschen beobachtet hatte, die um ihre Geliebten trauerten. Er wusste, was Verlust bedeutete.
Später – ich konnte nicht sagen, wie viel später – hob mich jemand auf. Der Duft von Piniennadeln und Moschus stieg mir in die Nase.
Joshua.
Diesmal wehrte ich mich nicht. Er bettete mich auf etwas Weiches, legte sich neben mich und schlang die Arme um mich.
Die Klauen würden Narben hinterlassen. Dünne, feuerrote Linien – vier auf jeder Schulter, die sich quer über meinen Rücken zogen. Karen hatte die Nähte am Morgen überprüft und festgestellt, dass die Wunden gut verheilten. Doch die Narben würden bleiben – eine stetige Erinnerung daran, was ich getan und was ich verloren hatte.
Vor 4 Tagen, 1 Stunde und 37 Minuten war Dad gestorben.
Ich kniete vor dem polierten Holzkreuz, das Larry für Dad geschnitzt hatte, drückte meine Hände in den Erdboden und sah auf. Hellgraue Wolken bedeckten den Himmel und die Sonne. Ob Dad mich jetzt sehen konnte?
Ich wischte mir über die Augen.
Laub wirbelte durch die Luft und fiel auf den Boden. Die letzten Tage waren ziemlich windig gewesen. Die Tür zur Kirche öffnete sich. Tyler betrat den Friedhof und hielt inne, als er mich sah. »Tut mir leid, ich wusste nicht, dass du hier bist.«
»Schon in Ordnung. Du kannst mir gerne Gesellschaft leisten«, sagte ich.
Er nickte und ging zu dem Kreuz neben Dads Grab hinüber; es gehörte Rachel. Tyler legte ein paar Blumen davor ab, die er im Innenhof gepflückt hatte. Rote und gelbe Rosen. Er senkte den Kopf.
Der Wind heulte seine Totenklage. Neben Rachel lag ein kleines Mädchen namens Moni; der einzige Undergrounder, der es nicht lebend nach Safe-haven geschafft hatte. Karen hatte uns erzählt, dass ihr Körper von einer Infektion geschwächt war und dass sie Würmer in ihren Eingeweiden gefunden hatte – wahrscheinlich stammten sie vom Rattenfleisch. Tyler nahm eine der Rosen von Rachels Grab und legte sie auf Monis. Als die Stille unerträglich wurde, räusperte ich mich. »Du hast sie nach Safe-haven gebracht. Das war gute Arbeit.«
Erst als er sich mit trüben Augen zu mir umdrehte, wusste ich, dass er mich überhaupt gehört hatte. »War gar nicht so schwer. Sie haben sich versteckt, sobald die Helikopter kamen. Darin haben sie Übung. Ich hab ihnen nur den Weg gezeigt.«
Eine Tür knarrte. Geoffrey eilte durch den Friedhof in die Kapelle. Er war so konzentriert, dass er uns gar nicht bemerkte. In letzter Zeit aß er kaum noch – all seine Gedanken galten dem Heilmittel.
»Macht Geoffrey Fortschritte?«, fragte ich.
»Karen hat gesagt, dass Geoffrey eine kleine Menge des Heilmittels reproduzieren konnte, aber er weiß nicht, ob es auch wirkt. Er bräuchte einen Weeper, um es zu testen«, sagte Tyler.
Wir verließen den Friedhof und gingen ins Haus. Bobby saß an dem Küchentisch, den er mit Larrys Hilfe sonnengelb gestrichen hatte. Mom und Mia hatten auf einer alten Bank neben dem Ofen Platz genommen. Moms Augen waren geschlossen. Mia flocht ihr Zöpfe. Die Trauer in Moms Gesicht ließ sie um Jahre älter wirken. Jedes Mal, wenn ich sie sah, krampften sich meine Eingeweide zusammen, ich fühlte mich so schuldig.
Bobby lächelte mir kurz zu. Nach unserer Rückkehr hatte es noch zwei Tage gedauert, bis er wieder völlig menschlich aussah. Manchmal beobachtete ich ihn immer noch dabei, wie er einen Vogel anstarrte, als ob er ihn mit Federn und allem auffressen wollte. Karen vermutete, dass sich das mit der Zeit
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