Totenmesse - Patterson, J: Totenmesse - Step on a Crack
uns keine großen Sorgen. Die Fluktuation von Küchenhilfen ist, wie in den meisten Restaurants, ziemlich hoch.«
»Kann ich mir denken«, meinte ich.
»Moment«, sagte Henri. »Ich glaube, er hat ein paar Sachen in seinem Spind gelassen. Möchten Sie mitkommen und einen Blick hineinwerfen?«
Unten in Pablos altem Spind entdeckte ich zwei Gegenstände.
Ein paar schmutzige Turnschuhe und einen zerknüllten Fahrplan der Metro-North-Hudson-Linie.
Der Fall der schmutzigen Turnschuhe. Emil und seine Detektive wären beeindruckt.
Noch eine Sackgasse. So kam mir die Situation im Moment jedenfalls vor.
Ich stopfte die Sachen des Küchenhelfers in eine leere Plastiktüte, die unter dem Spind lag. Vielleicht könnten wir Pablo aufgrund seiner Fingerabdrücke identifizieren. Wenn er nicht bereits wieder in Mittelamerika war.
Es war eine ziemlich jämmerliche Spur, wurde mir klar, aber lieber eine jämmerliche als gar keine.
»Haben Sie einen Anhaltspunkt?«, fragte Henri aufgeregt, als ich die »Beweismitteltüte« anhob.
Ich schlug den Spind mit einem dröhnenden Knall zu.
»Einen sehr schwachen, Emil«, antwortete ich.
50
In ihrem Traum befand sich Laura Winston, die von der Vogue titulierte »Modekönigin des neuen Jahrtausends«, auf Ralph Laurens Grundstück im Norden von Westchester draußen auf dem See. Sie lag allein in einem Kanu, bedeckt mit einem weißen Musselintuch, und trieb unter dem leuchtend blauen, endlosen Himmel dahin, am Ufer entlang unter den Ästen eines überhängenden, blühenden Kirschbaums. Ein Wirbel weißer, fallender Blütenblätter, die so fein waren wie Engelslider, landeten sanft auf ihrem Gesicht, ihrem Hals und ihren Brüsten. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch der Musselin war fest um ihre Arme gewickelt. Sie war tot und lag in ihrem Beisetzungsboot, wie sie merkte - und sie begann zu schreien.
Laura Winston wachte schlagartig auf und stieß mit dem Kopf gegen die Armlehne der Holzbank, auf die sie ihn gelegt hatte.
Ein lautes Klack-Klack von Stiefeln näherte sich, und zwei Männer mit Skimasken über den Gesichtern und Patronengürteln mit Granaten über der Brust ihrer braunen Kutten kamen langsam den Mittelgang der Kapelle entlang.
Was für eine Idiotin ich doch bin, dachte sie. Hätte sie sich gescheiterweise von der Beerdigung entschuldigen lassen, könnte sie jetzt zehntausend Meter über der Südkaribik in einer Gulf Four sitzen. Ziel: ihr Einundzwanzig-Millionen-Palast im französischen Renaissance-Stil in St. Barth’s, um dort ihrer Silvesterfeier den letzten Schliff zu
geben. Giorgio, Donatella, Ralph und Miuccia hatten bereits auf ihre Einladung geantwortet.
Stattdessen hatte sie diese leise Stimme überhört, ihren vorsichtigen inneren Wächter, der am Abend zuvor auf sie eingeplappert hatte: Hallo! Hochkarätiges Ereignis in NYC, Megaziel von Terroristen. Bleib weg!
Aber jetzt erklang noch ihre andere geheimnisvolle Stimme, die sich gerade zu ihrer qualvollen Leier aufwärmte.
Sie hatte keine Tabletten mehr.
Das Oxygesic hatte sie ursprünglich nach einem leichten Tennisunfall verschrieben bekommen. Einen Monat später, nachdem sie gemerkt hatte, dass ihr Arzt mehr als bereit war, ihr weitere Rezepte auszustellen, nahm sie die Dinger zusammen mit ihren Vitamintabletten. Der ultimative Energieschub, der ultimative Stresslöser.
Laura wollte es nicht zugeben, aber seit einer Stunde war sie verrückt nach diesen Tabletten. Dies war schon einmal passiert, einen Tag lang während eines Fotoshootings in Marokko. Die Entzugserscheinung hatte wie ein leichtes Jucken in ihren Adern begonnen, das aber bald schlimmer geworden war, bis sie angefangen hatte zu würgen. Nach etwa einer Stunde Würgereiz hatte sie unaufhörlich gezittert, nach zehn Stunden hätte sie sich dankbar das Haar ausgerissen, um die Sache zu beenden. Nur mit einer halben Packung Valium hatte sie den Anfall überlebt, die sie zum Glück von ihrem Fotografen bekommen hatte.
Aber jetzt, hier, hatte sie nichts.
Vielleicht hatte einer von den anderen was dabei, fiel ihr ein. Diese Hollywood-Typen waren bekannt für ihre Wohlfühlmittelchen. Sie konnte sich doch mal höflich umhören. Schließlich saßen sie alle im gleichen Boot, man musste doch brüderlich teilen.
Nein, dachte sie und erschauderte. Ihre »Makellosigkeit« war alles, was sie hatte. Sie zu verlieren war inakzeptabel. Niemand konnte von ihrer Abhängigkeit von diesem »Hinterwäldlerheroin« wissen. Sie musste nachdenken. Los,
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