Wenn die Seele nicht mehr leiden kann - Gewalt in der Ehe (German Edition)
einem tyrannischen Mann geflohen zu sein. Wir alle kannten die Angst in der Nacht, hatten unzählige Kämpfe ausgetragen, uns in den Schlaf geweint, das Tröstliche der Versöhnung kennengelernt sowie die Panik, wenn einem das eigene Kind aus den Armen gerissen wird, und die Hilflosigkeit, wenn unsere Kinder gezwungen werden, sich alles mit anzusehen. Wir alle hatten ihre herzzerreißenden Schreie gehört und den Schreck in ihren Augen gesehen, wenn sie versuchten, die Misshandlung ihrer Mama zu beenden. Doch obwohl wir im Großen und Ganzen durch dieselbe Hölle gegangen waren, fehlte uns die Kraft, am Schicksal der anderen teilzunehmen. So wanderten wir wie stumme Zombies umher, denn worüber hätten wir auch sprechen sollen? Über lustige Geschichten, die wir am Arbeitsplatz erlebt hatten? Über Make-up und die neueste Mode? Über unsere Pläne fürs Wochenende?
Ein wenig Kontakt bekam ich immerhin zu einer jungen Thailänderin, die nach Deutschland gekommen war, um mit dem Mann zusammenzuleben, der sie aus der Armut errettet hatte und von dem sie glaubte, er sei ihre große Liebe. Er hatte sie in der Wohnung eingesperrt und unter ständigen Schlägen gezwungen, ihm den Haushalt zu führen. An wen hätte sie sich schon wenden können?
Mit wem hätte sie in ihrem bruchstückhaften Deutsch sprechen sollen? Sie hatte weder Freunde noch Familie in der Nähe, nur einen Dreckskerl als Mann, der auf dem Sofa saß, ein Bier nach dem anderen in sich hineinschüttete und gegenüber seinen Kumpeln damit protzte, wie billig er seine Thai-Hure importiert habe.
Ich bewunderte sie für ihren Mut, sich in einem fremden Land von ihrem Unterdrücker befreit zu haben.
Am nächsten Tag wollten mich meine Freunde besuchen. Ihnen und meinen Eltern hatte ich es zu verdanken, dass ich auch in den schlimmsten Zeiten den Kopf irgendwie über Wasser gehalten habe, also wollte ich gut aussehen, wenn sie mich jetzt sahen. Die Sachen, die ich von Melanie und Hannes bekommen hatte, waren inzwischen schmutzig geworden, und ich war noch nicht dazu gekommen, meine schöne schwarze Hose und mein weißes T-Shirt zu waschen. Ilka sagte mir, dass es im Keller einen Raum voller Kleider gäbe, die freundliche Leute Frauen wie mir überlassen hätten. Ich ging also in den feuchten, dunklen Keller, in dem es nach Schimmel roch, und entdeckte in einem kleinen Kellerabteil einen klapprigen Kleiderständer aus Metall. Die Kleidungsstücke hingen so eng nebeneinander, dass man gleich zehn von ihnen in der Hand hatte, wenn man eines herausziehen wollte. Muffige Jacken aus braunem Tweed und altmodische Kleider, die vielleicht meiner Großmutter gestanden hätten, waren alles, was ich fand. Dann entdeckte ich doch noch ein gestreiftes Hemd in Größe 38, dem zwei Knöpfe fehlten, aber ich konnte mir nicht erlauben, zu wählerisch sein. Dazu suchte ich mir eine beigefarbene Männerhose aus, die ich mithilfe eines Mantelgürtels in der Taille festzurrte. Doch für David fand ich beim besten Willen nichts. All die freundlichen Menschen, die Kleider gespendet hatten, schienen nur Mädchen zu haben.
Aber wer kann sich später schon daran erinnern, was für Klamotten er mit einem Jahr getragen hat?
Meine früheste Erinnerung geht ungefähr auf mein fünftes Lebensjahr zurück. Damals hat meine Oma Anna für mein Outfit gesorgt. Oma Anna schneiderte selber und hatte einen guten Geschmack. So trug ich viele Faltenröcke mit schönen Blüschen oder gestrickte Kleider.
Dann sah ich einen zweites Bündel in einer Ecke liegen. Dort waren auch Sachen für Jungens drin. Ich suchte eine kleine Jeans und einen Pulli heraus und ging wieder nach oben.
Unser Besuch konnte kommen. Es war wie an Heiligabend, als die Freunde kamen und ihre Geschenke aufreihten: Nahrungsmittel, Kleider, Zeitschriften, Windeln, Kinderbrei. Melanie wollte mich auch am folgenden Tag besuchen und mich zu einem Einkaufszentrum mitnehmen, um dort ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk für mich zu kaufen. Sie versprach mir, dass wir auch nach wärmeren Sachen für David schauen würden.
Meine Eltern hatten mir einen ganzen Beutel voller Hygieneartikel, Handtücher etc. geschickt. Melanie und Hannes hatten ein großes Risiko auf sich genommen, indem sie mich in meinem Versteck besuchten. Da wir davon ausgingen, dass sie von Mati selbst oder einem seiner kriminellen Freunde observiert wurden, mussten sie ein ausgeklügeltes Ablenkmanöver hinter sich bringen, um hierherzukommen. Mehrmals wechselten
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