Wer viel fragt
Mrs.
Forebush. Aber ich wollte Gewißheit haben. Es tut mir leid, daß
Sie es so noch einmal durchmachen mußten.«
Darüber dachte sie eine
Weile nach. »Ich werde es überleben«, sagte sie. »Eins
der Probleme des Altseins besteht darin, daß die Dinge, über
die man nicht gerne redet, immer zahlreicher werden.«
»Noch eine Kleinigkeit,
und zwar diesmal zum Kern der Sache, dann werde ich gehen. Falls Leander
Crystal vermutet haben sollte, daß Fleurs Kind nicht von ihm war, hätte
er dann tatenlos zugesehen, wie sie es bekommt, und es dann als sein
eigenes aufgezogen?«
Wieder überlegte sie.
Ihre Augen wanderten unstet durch den violetten Raum, ein starker
Gegensatz zur völligen Bewegungslosigkeit ihrer steifen,
aufeinandergepreßten Lippen.
Hätte ihr Schweigen noch
viel länger angedauert, dann wäre ich wohl selbst in Gedanken
über das Alter und den Tod und den Verfall versunken. Das Violett des
Raumes zog sich dichter zusammen und wurde etwas dunkler. Was für ein
miserabler Tag. Und welch armselige Weise, ihn zu beginnen.
Schließlich sagte sie:
»Davon würde ich nicht ausgehen. Aber wer kann das schon sagen.
Ich bin ja wahrlich keine Expertin, was Mr. Crystal anbelangt.«
»Könnte Fleur denn
möglicherweise vergewaltigt worden sein und es Leander nicht erzählt
haben?«
Sie dachte wieder nach.
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Fleur, so, wie sie
damals war, irgend etwas für sich behalten hätte - weder vor
ihrem Vater noch vor Mr. Crystal.«
Wir saßen da und
dachten darüber nach. Ansonsten gab es nicht mehr viel zu sagen.
Ich verabschiedete mich.
17
Es regnete immer noch. Das
viele Wasser trieb mich schneller in meinen Wagen zurück, als ich
eigentlich gewollt hatte. Ich stieg ein und fuhr los. An der
Central-HighSchool bog ich rechts ein und fuhr dann eine Weile mehr oder
weniger in Richtung Stadtmitte. An einer nicht näher definierbaren
Snack-Bar hielt ich an. Wenn man Zeit fürs Mittagessen hat, dann ist
es Mittagessenszeit. Ich nahm einen Tee und ein Stück matschigen
Schokoladenkuchen.
Durchs Fenster an meinem
Tisch beobachtete ich einige Bauarbeiter. Sie sahen aus dem Schutz eines
Anbaus der Schule heraus dem Regen zu. Schließlich begriff ich,
warum sie da drinnen standen und dem Regen zusahen. Sie hatten die
Verschalung für die Betonstufen angelegt, die zum Tor des neuen
Schulflügels führen sollten, aber sie wollten den Beton nicht
gießen, solange es so stark regnete.
Mich überflutete der
starke Wunsch, daß sie die Treppen niemals gießen würden.
Ich war dem Regen dankbar, daß er sie aufhielt. Die Schlagzeile würde
lauten: »Samsons Regen verhindert Betonierung.«
Reifen, die sich auf der Straße
durch Wassermassen pflügen, hören sich so ähnlich an wie
eine Gabel, die einen matschigen Schokoladenkuchen zerteilt. Meine
Gedanken schweiften ab.
Ich hatte etwas Zeit. In
meinem Notizbuch standen zwei Anweisungen, die ich jetzt zu befolgen
gedachte: »Testament überprüfen«, und: »Totenschein
überprüfen.« Ich beschloß, kühn zu sein und
mich der schwierigeren Aufgabe zuerst anzunehmen. Des Totenscheins.
Die Totenscheine werden in
Indianapolis vom Gesundheitsamt auf der West Michigan Street archiviert.
Es ist schwierig, darin Einblick zu nehmen, weil nur ein kleiner Teil der
Informationen, die sie enthalten, als öffentlich gilt. Um genau zu
sein, »Name und Geschlecht, Alter, Sterbeort und Adresse des
Verstorbenen«. So bestimmt es Abschnitt 1227, Kapitel 157 der
Gesetze des Staates Indiana von 1949. Das ist mir bekannt. Ich hatte schon
öfter Zusammenstöße mit Miss Moleman. Miss Moleman, der Wächterin
über die Totenscheine von Marion County.
»Estes Graham. Männlich.
Dreiundachtzig. Graham House, North Meridian Street. Desgleichen«,
sagte Miss Moleman. Ich nenne sie den Elch. Nicht wegen irgendwelcher körperlicher
Ähnlichkeiten - sondern einfach, weil das, was sie mir sagt, so
lieblich klingt wie der Lockruf eines Elchjägers.
»Na komm schon, Schätzchen«,
sagte ich. »Es tut doch nicht weh, wenn Sie mich mal kurz einen
Blick auf dieses alte, grüne Stückchen Papier werfen lassen.«
»Nein!« sagte
sie.
»Ich lade Sie zu einem
Stück Schokoladenkuchen ein.«
»Meine Anweisungen
lauten, die Informationen weiterzugeben, die ich Ihnen gegeben habe, und
sonst nichts.
Um den Totenschein im
Original
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