Wo der Elch begraben liegt
Es war nicht leicht, die großen Worte, die Gunnel benutzt hatte, entsprechend umzusetzen. Frida saß die meiste Zeit fest. Der Text war nicht gut. Er klang lächerlich und hochtrabend. Wie sollte sie die Emotionen vermitteln, ohne dass ihre Worte plump und pathetisch wurden und auf die Tränendrüse drückten? Frida blätterte noch einmal durch ihre Aufzeichnungen und versuchte, die Sätze genau zu treffen, so wie sie aus Gunnels Mund gekommen waren. Nachdem Gunnel das Vertrauen gefasst hatte, ihre Geschichte zu erzählen, wollte Frida unbedingt vermeiden, ihre Gefühle zu verletzen. Außerdem hatte sie versprochen, anzurufen und ihr den Artikel vorzulesen, bevor er in Druck ging. Das zumindest schien sicher, aber Frida war trotzdem nervös. Sie hoffte, dass Gunnel nichts von ihren Äußerungen zurücknahm oder diese womöglich generell bereute. So etwas war nicht ungewöhnlich, wie sie in der Schule gehört hatte. In so einem Fall stand man dann kurz vor der Deadline ohne Text da. Schließlich hatte sie fast fünftausend Zeichen zusammen, ein paar allzu melodramatisch klingende Formulierungen gestrichen und sich dann zum Abschluss durchgerungen. Sie blickte auf ihre Notizen über den zweiten Sohn, Johan. Was war mit ihm geschehen? Auf welcher Weise war er » fort«? War er tot, oder wieso konnte man nicht über ihn sprechen?
7
Sie lief über die Hauptstraße und sah all die leeren Häuser mit ihren schmutzigen, dunklen Fenstern und den verlassenen, unordentlichen Gärten. Es war still, und sie war allein und barfuß. Sie blieb an den eingefallenen, durch Feuer beschädigten Gebäuden der ehemaligen Metallfabrik stehen und blickte zu dem großen Weiher hinüber. Sie sah, wie das Wasser stieg. Es fing an zu regnen, und das Wasser stieg noch mehr an. Erst trat es über die Uferböschung, lief dann über die Straße, türmte sich schließlich zu einer Woge auf und preschte auf die Anhöhe bei der Fabrik zu, wo sie stand. Sie spürte die Angst, stand aber wie festgewachsen da und konnte ihre kalten, nassen Füße nicht bewegen. Die Woge kam näher und näher, wuchs immer weiter an. Sie sah Frauen und Männer zwischen den Häusern hin- und herlaufen und Sandsäcke und Dynamit zum Damm tragen. Sie würden es nicht schaffen. Niemand konnte einen Weiher aufhalten, der sich in ein Meer und eine Wand aus Wasser verwandelte, alles überschwemmte, ertränkte und ausradierte. Es war bereits zu spät. Die einzig offene Frage war, wie es sich wohl anfühlte zu ertrinken. Ob es wohl sehr kalt war? Dann ein Funke von einem Streichholz, ein aufflackerndes Licht, der Geruch nach Schwarzpulver und plötzlich… eine Explosion! Die Woge behauptete sich, stagnierte, mit einem Mal erstaunt darüber, dass die äußere Begrenzung nicht mehr existierte. Plötzlich gab es Platz, die Woge konnte in Richtung Ortschaft abfließen, bahnte sich ihren Weg und riss alles mit, was sich am Rand des Baches befand, wirbelte Bäume, Schrott und Gerümpel umher und durchspülte die Tümpel und Becken, in denen das Wasser seit Jahren still gestanden hatte. Plötzlich waren Holz und Glas im Wasser. Überall Splitter mit scharfen Kanten. Sie blickte sich um und sah die Türen des Missionshauses im Wind hin- und herschlagen, während die umgebenden hohen Bäume umstürzten, sodass es dröhnte und krachte.
Åke, in die weiße Kluft eines Küchenchefs gekleidet, trat auf die Treppe heraus. Er hielt ein großes Messer in der Hand. An der Klinge war Blut. Annika und Mats, angezogen wie Kellner, standen direkt hinter ihm. Sie schüttelten den Kopf und lachten sie aus. Eine weitere Person, es musste Harriet sein, kam wie ein Vielfraß auf sie zugeschwankt und zischte zwischen den Zähnen hervor: » Das hast du uns angetan.« Ein plötzliches Zucken im Körper. Sie konnte nicht einfach dort stehen bleiben. Es war nicht auszuhalten. Sie musste fliehen…
Auf der anderen Seite war das Wasser. Sie war eingeklemmt, saß fest, stand abgedrängt. Langsam ging sie auf die schnaubende Harriet zu und flüsterte: » Gib mir deine Kleider. Wenn du mir nicht deine Kleider gibst, kann ich deine Arbeit nicht machen.« Rasender Wutanfall, gefletschte Zähne und Geknurre, doch schließlich nahm Vielfraß-Harriet ihre Schürze ab. Sie knüllte sie zu einem Ball zusammen und warf sie Frida zu, die sie auffing und sich wie einen Schild umlegte, eine zusätzliche Haut. Jetzt trug sie Nachthemd und Schürze, hatte aber immer noch nackte und nasse Füße. Åke gab ihr das Messer. »
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