Kaltduscher

Sexuelles. Ja, so ist das. Ist doch auch kein Problem. Solange man gegenseitig auf die Gefühle achtet. Muss man auch mal im Großen und Ganzen sehen…
    Telefon. Meine Mutter. Ruft an, während das Nordderby läuft. Immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich doch die Prioritäten des Lebens innerhalb einer Familie gesetzt sein können.
    »Hallo Mama, du, ich sitz gerade…«
    »Hallo Oliver, du, ich will dich auch gar nicht lange stören, aber ich hab eine wichtige Neuigkeit für dich. Stell dir vor, dein Patenonkel Heinz darf am Montag nach deinem und Papas Geburtstag im Berliner Dom predigen!«
    »Aha.«
    Sie klingt wirklich aufgeregt. Aber was ist daran so besonders? Mein Patenonkel Heinz ist Pfarrer. Der predigt doch die ganze Zeit immer irgendwo…
    »Unglaublich, nicht wahr? Das ist eine Reihe mit Gastpredigern, und einer von denen ist ausgefallen, und Onkel Heinz darf…«
    »Alles klar, Mama. Wie viel Uhr?«
    »10.30 Uhr. Ist doch eine tolle Geburtstagsüberraschung für euch, oder?«
    »Auf jeden Fall.«
    »Hast deinen Patenonkel ja auch wirklich schon lange nicht mehr gesehen. Und dann gleich im Dom…«
    »Ja, Mama. Du, können wir vielleicht nachher oder morgen weiter…«
    »Natürlich. Wollte ich nur schnell loswerden. Ich freu mich schon auf euren Geburtstag. Tschüss… ach, Oliver, Mandeltorte ist gut, oder?«
    »Ja, prima. Ich freu mich auch. Tschüss.«
    Hm, für mich waren alle Kirchen immer in etwa gleich. Aber klar, jetzt, wenn ich so darüber nachdenke, Berliner Dom, hat schon was…
    Der Schiri pfeift ab. Es bleibt beim eins zu eins. Wir trinken in Ruhe aus und tröpfeln nach und nach auf die Straße. Tobi und Gonzo beharken sich noch ein wenig, beruhigen sich dabei aber langsam. Caio legt mir die Hand auf die Schulter.
    »Ich muss los. Du denkst an den Termin morgen?«
    »Ja, Caio, neun Uhr, Hauptbahnhof, Gleis 8.«
    »Genau. Sei bitte pünktlich und nimm für alle Fälle dein Handy mit.«
    »Alles klar. Ich weiß nur nicht, ob ich das noch bis morgen mit dem Fusselbart hinkriege. Oder ist das nicht so wichtig bei der Rolle?«
    »Bis dann, Krach.«
     
    *
     
    Es ist schon spät. Ich liege auf meiner Matratze und arbeite schon seit einer halben Stunde an einer SMS für Julia. Zum letzten Mal lese ich den finalen Entwurf durch:
    schlaf gut ;-)
    Ja, das ist prima. Oder doch lieber mit »:-)«?
    Ach, diese Smileys sind sowieso nicht meine Welt.
    schlaf gut!
    Nein, viel zu grob, so ein Ausrufezeichen.
    schlaf gut
    Schön und kurz. Aber irgendwie steckt da nicht alles drin…
    Schlaf gut
    Jaaa, so ganz konservativ mit Groß- und Kleinschreibung. Das hat was… Aber irgendwie ist das alles nicht Julias Welt.
    träum was schönes
    Nein.
    ich hoffe, ich träum von dir
    Hmmm, das könnte…?
    Oh, jetzt krieg ich eine SMS… Von Julia.
    es war nur was sexuelles
    …
    Moment, Moment. Das ist doch jetzt wieder ein Code, oder? Verflixt. Hätte ich nur mal früher gesmst. Aber hilft ja nichts. Ich muss jetzt dechiffrieren, führt kein Weg dran vorbei.
    Okay. Gute Codeknacker arbeiten immer intuitiv. Das muss ich jetzt auch machen. Augen zu, Kopf leer machen… und jetzt spontan draufgucken.
    es war nur was sexuelles
    …
    Vielleicht einfach rückwärts lesen?
    selleuxes saw run raw se
    Klingt auf jeden Fall besser. Meine Intuition sagt mir, dass das ein gutes Zeichen ist… Ah, sie hat keinen Punkt am Ende gemacht. Damit will sie doch unbewusst sagen, dass für sie alles noch offen ist, oder? Der Sinn des Satzes steht dem allerdings ein bisschen entgegen, muss man sagen… Obwohl, das kommt jetzt wieder darauf an, wie man ihn interpretiert. Ich sollte einfach mal alle Interpretationen aufschreiben, die mir spontan einfallen. Dann streiche ich die unsinnigsten aus und nähere mich so Schritt für Schritt der Wahrheit. Vielleicht sollte ich mir auch noch Tobi zu Hilfe holen, wegen der Außensicht? Aber das Plappermaul erzählt bestimmt Amelie davon. Vielleicht hat Julia ihr sowieso schon alles erzählt?
    Ich muss mich konzentrieren. Her mit dem Stift.
    Interpretationsmöglichkeiten einer SMS von Julia mit dem Text »es war nur was sexuelles«:
    1) Ich will dich nicht mehr sehen
    2) Morgen, H&M, gleiche Zeit…?
    3) loh will dich nicht mehr sehen!!!
    4) Morgen H&M, gleiche Zeit!!!!!!
    5) Das war der mieseste Sex, seit ich mit Günni auf der Klassenfahrt…
    6) Das war der beste Sex, seit ich mit Günni auf der Klassenfahrt…
    7) Ich liebe dich, aber du hast es nicht verdient
    8) Ich liebe dich nicht,