Silbernes Band (German Edition)
der Unsterblichen ähnliche Strukturen aufwies, wie ein x-beliebiges Unternehmen in der Welt der Menschen. Wenn man davon absah, dass Unsterbliche unlauteren Handel mit Blut betrieben, rigorose Gesetze einhalten mussten und regelmässig töteten, waren sie eigentlich stinknormal.
„Lass uns etwas frische Luft schnappen. Ein kleiner Spaziergang durch die Innenstadt wird uns gut tun“, schlug Fionn vor. Heiðar war einverstanden. Sie umrundeten den Tjörnin und gingen auf der Tjarnargata in Richtung Rathaus. Fionn blieb unvermittelt stehen und blickte auf die schwarze Wasserfläche, die vom Wind sanft geschaukelt wurde. „An dieser Stelle habe ich damals entschieden, deine Mutter zu verschonen.“ Heiðar schluckte. Jener Moment war entscheidend gewesen, dass er überhaupt geboren wurde. Er legte seinem Vater die Hand auf die Schulter. „Ich besuche sie übermorgen. Du solltest mich begleiten. Ich glaube kaum, dass sie dir eine Szene macht, wenn ich dabei bin.“ – „Ausgeschlossen. Ich werde sie nicht aufsuchen, solange sie nicht darum bittet.“ – „Wie schade. Es wäre schön, wenn wir einmal eine Familie sein könnten. Wenigstens für eine Stunde oder zwei.“ – „Es tut mir leid, dass ich dir diesen Wunsch nicht erfüllen kann.“ – „Bist du einverstanden, wenn ich ihr erzähle, dass wir uns kennengelernt haben?“ – „Selbstverständlich. Ich bin sicher, sie vermutet es bereits.“
Kristín war keineswegs entgangen, dass Heiðar sich verändert hatte. Er wirkte gelöst, ja glücklich, als sei eine schwere Last von ihm genommen worden. Sie machte sich viele Gedanken, wenn sie tagsüber einsam in ihrem Spitalbett lag und darauf wartete, dass es Abend wurde und er sie besuchte. Die Vermutung, dass Fionn etwas mit Heiðars Veränderung zu tun hatte, lag auf der Hand. Dennoch scheute sie sich, ihren Sohn darauf anzusprechen. Eigentlich müsste sie dann wütend sein auf Fionn. Sie wusste nicht, ob sie das wollte. Wenn es Heiðar gut tat, Zeit mit seinem Vater zu verbringen, dann konnte sie unmöglich etwas dagegen haben. Er war längst erwachsen, und sie musste bald sterben. Fionn könnte ihm beistehen. Doch es schmerzte sie, dass Heiðar ihr nichts davon erzählte.
Ein kurzer Moment
Die Stadt lag in dichten Nebel gehüllt. Nur wenige Passanten flanierten an diesem Nachmittag über den Skólavörðustígur. Ilka war damit beschäftigt, zurückgelassenes Geschirr zusammenzuräumen. Flugs stapelte sie benutzte Teller, Tassen, Gläser und Besteck auf ein Tablett, rückte Stühle zurecht und rieb verschmierte Tischplatten sauber. Einer der Tische direkt am Fenster war furchtbar klebrig und voller Krümel. „Was für eine Schweinerei!“ Sie schnalzte missbilligend und begann kräftig über die eingetrockneten Flecken zu schrubben. Im Kopf spielte sie den Nummer-Eins-Hit von Jónas, ihrem derzeitigen Lieblingssänger.
Ilka hielt inne. Sie fühlte sich beobachtet. Bohrende Blicke drangen durchs Schaufenster. Neugierig drehte sie sich um. Auf dem Gehsteig stand ein blonder Mann, der sie eingehend musterte. „Was glotzt du so blöde?“ Als hätte er ihr genervtes Gemurmel gehört, verzog er das attraktive Gesicht zu einem strahlenden Lächeln. Ilka verdrehte die Augen und wandte sich wieder den Krümeln zu. Der Blonde blieb einfach da stehen und störte sie weiter bei der Arbeit. „Na warte, dich bring ich aus dem Konzept.“ Ilka wirbelte abrupt herum, lächelte mindestens so strahlend zurück und winkte begeistert, als handle es sich bei dem Fremden um einen guten Bekannten. Pech gehabt, der Blonde liess sich nicht irritieren, hob ebenfalls die Hand und winkte genauso freundlich in die Buchhandlung hinein. „Ach, lass mich doch in Frieden!“ Ilka gab das Putzen auf, holte ihr schwer beladenes Tablett und stürmte mit verkniffener Miene zum Tresen des Cafés.
„Was ist denn heute mit Ilka los? Ist sie immer noch traurig wegen des vermissten Schauspielers?“ Sólveig, die die Kasse bediente, warf der jungen Kollegin einen mütterlich besorgten Blick hinterher. „Keine Ahnung. Sie hat jedenfalls nicht mehr von ihm gesprochen“, erwiderte Rúna schulterzuckend und widmete sich wieder dem Stapel reservierter Bücher, die sie in ein Regal hinter der Kassentheke einreihte. Auf dem Tresen lag eine Liste der offenen Bestellungen. Sobald ein gewünschtes Buch eingetroffen war, benachrichtigte sie den Kunden, damit er es abholen konnte. Mehrere Leser hatten „Eiskalte Schatten“ bestellt. Auch
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