ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
offensichtlich nehme nur ich das Quietschen wahr, denn keiner seiner Kameraden schaut in unsere Richtung. Er ist kein undisziplinierter Neuling, das ist offenkundig. Er kann es sich erlauben, einen Vollbart zu tragen, und sein Kragenspiegel lässt darauf schließen, dass er jede Menge gefährliche Situationen durchgestanden hat. Und noch etwas fällt auf: Er schüttelt den Kopf. Ich glaube sogar ein haarfeines spöttisches Lächeln wahrzunehmen. Damit stört er das Ritual, und jetzt warte auch ich ungeduldig darauf, dass er das Wort ergreift. Es dauert nicht lange, denn mitten in der eindringlichen Beschreibung eines osteuropäischen Geheimdienstes, der seinen Opfern die Fingernägel herausreißt, bringt der Mann zu meiner Rechten die Runde zum Schweigen.
»Ihr habt gar nichts kapiert. Ihr habt absolut keine Ahnung. Ihr lest die Klatschgeschichten in den Zeitungen und schaut die 20-Uhr-Nachrichten im Fernsehen, mehr nicht. Nichts wisst ihr.«
Dann wühlt er hektisch in der Tasche seiner Militärhose, zieht ein Smartphone heraus und bewegt nervös die Finger über den Touchscreen, bis eine Landkarte erscheint. Er vergrößert und verschiebt sie, vergrößert sie erneut und präsentiert schließlich einen Ausschnitt. »Hier. Die Schlimmsten sind hier.« Sein Finger zeigt auf ein Land in Mittelamerika. Das Ritual ist unterbrochen. Guatemala. Alle sind erstaunt.
»Guatemala?«
Der Veteran sagt nur ein einziges Wort, das den meisten am Tisch offenbar unbekannt ist. »Kaibil.«
Ich selbst kenne den Namen von Zeugenaussagen aus den siebziger Jahren, aber er war in der Tat nicht mehr geläufig.
»Acht Wochen«, fährt der bärtige Soldat fort, »acht Wochen, und alles, was den Menschen zum Menschen macht, verschwindet. Die Kaibiles haben herausgefunden, wie man das Gewissen ausschaltet. Innerhalb von zwei Monaten kann man einem Menschen alles austreiben, was ihn vom Tier unterscheidet. Was ihn befähigt, Bosheit, Güte und Zurückhaltung zu unterscheiden. Innerhalb von acht Wochen kannst du aus dem heiligen Franziskus einen Killer machen, der Tiere totbeißt, zum Überleben seinen eigenen Urin trinkt und Menschen jeden Alters umbringt. Acht Wochen genügen, um jemandem beizubringen, auf jedem Terrain und unter allen klimatischen Bedingungen zu kämpfen und unter feindlichem Beschuss zu überleben.«
Schweigen. Eine ketzerische Äußerung, ist doch gerade das Paradigma der angeborenen Grausamkeit in Frage gestellt worden. Ich muss mit einem Kaibil in Kontakt treten. Ich fange an zu lesen und erfahre, dass die Kaibiles ein Elitekorps der guatemaltekischen Armee zur Aufstandsbekämpfung sind. Es entstand 1974 mit Gründung einer Militärschule zu deren Ausbildung für Spezialeinsätze. Zu dieser Zeit tobte in Guatemala schon lange ein Bürgerkrieg, in dem Regierungsstreitkräfte und von den Vereinigten Staaten unterstützte Paramilitärs erst unorganisierten Guerillakämpfern und dann der Rebellengruppe Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca gegenüberstanden. Ein gnadenloser Krieg. Die Kaibiles jagten willkürlich Studenten, Arbeiter, Freischaffende, Oppositionspolitiker. Jeden. Maya-Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht und Bauern hingemetzelt, deren Leichen man in der erbarmungslosen Sonne verwesen ließ. Sechsunddreißig Jahre
später und nach mehr als 200 000 Toten, 36 000 desapare-cidos und 626 nachweislichen Massakern ging der Bürgerkrieg in Guatemala 1996 mit einem Friedensabkommen zu Ende. Auf Bitten der USA machte der neue Präsident Alvaro Arzu die Truppen, die als die beste Streitmacht Lateinamerikas zur Aufstandsbekämpfung galten, zu einem wirksamen Instrument gegen den Drogenhandel.
Nach ihrem Selbstverständnis sind die Kaibiles durch harte körperliche Prüfungen gestählte »Tötungsmaschinen«, die ihre Tapferkeit täglich mit neuen Grausamkeiten unter Beweis stellen. Das Blut eines Tieres zu trinken, das man getötet hat, und dessen rohes Fleisch zu essen, verleiht dem Kaibil Durchhaltevermögen und Stärke. Die guatemaltekische Kommission für Aufklärung der Geschehnisse interessiert sich schon seit längerem für diese Praktiken und hat einen Bericht mit dem Titel Memoria del silencio (Erinnerung des Schweigens) vorgelegt. Darin wird dokumentiert, dass in den sechsunddreißig Jahren des guatemaltekischen Bürgerkriegs dreiundneunzig Prozent der Verbrechen von Ordnungskräften und paramilitärischen Gruppen, insbesondere den Patrullas de Autodefensa Civil und den Kaibiles, begangen
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